München: Runder Tisch

26. Mai 2014:

„Kinder sind wie ein Baum – brauchen viel Liebe und Zeit“

Stress und Versagensängste belasten bereits Grundschüler – „Tanztheater-Schulprojekte“ will das ändern

Die weißen Wände sind bis zu acht Meter hoch. Den Boden ziert dunkelbrauner Parkett. Sonnenlicht scheint durch die Fenster auf eine kleine Bühne. Normalerweise toben hier im Pfarrsaal der evangelischen Bischofskirche St. Matthäus Kinder herum, treffen sich Motorradfans oder singen Männer und Frauen im Chor. Doch von all dem ist gerade nichts zu sehen und zu hören. Der Saal ist leer. Nur am Rande steht ein Tisch, umringt von Stühlen. Auf einem hat Christian Grayer Platz genommen. Noch ist er allein.

Er hat Großes vor, will mit seinem Tanztheaterprojekt etwas bewegen – und zwar das „starre“ Bildungssystem in Deutschland. Denn das lege sich wie ein Würgegriff um die Hälse von Schülern und Lehrern, sagt er. „Es zählt nicht mehr der Mensch, sondern nur noch das System, in dem er sich bewegt und in dem er funktionieren muss“, meint Grayer. „Persönliche Stärken und Gefühle spielen keine Rolle, werden in unserer modernen Gesellschaft dem System und dessen Erfolg untergeordnet.“

Die Folge: Stress, Stress und nochmals Stress – für Schüler und Lehrer. Insbesondere durch Bildungsreformen wie die Verkürzung der Gymnasialzeit von neun auf acht Jahre – genannt G8. Das Kürzel stand bis vor kurzem noch für den Zusammenschluss der mächtigsten Industrienationen – mit dabei unter anderen die USA, Deutschland, Japan sowie Russland, die im Zuge der andauernden Krimkrise kurzerhand ausgeschlossen wurden.

In der deutschen Bildungspolitik geht das leider nicht so schnell, trotz jahrelanger Proteste und Petitionen von Seiten der Schüler, Eltern und auch immer mehr Lehrern, die zurück zum G9 wollen. Doch dem geben die Bundesregierung und die einzelnen Kultusministerien nicht nach. Die Schulen machen Dienst nach Lehrplan. In Bayern heißt das: „Schule darf keine „heile Welt“ sein. Wenn die Gesellschaft auf Leistung und Wettbewerb basiere, müsse auch in den Schulen am Leistungsbegriff festgehalten werden“, erklärte Thomas Sachsenröder, der Leiter des Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung in München auf einer Tagung des bayerischen Lehrer und Lehrerinnenverbands (BLLV) zum Thema „Aufbrechen. Der Lehrplan im Fokus“.

Doch selbst Ärzte und Therapeuten beklagen, dass immer mehr Kinder mit schulischer Überlastung und der Angst vorm Versagen zu kämpfen haben. Aus der aktuellen Studie des Deutschen Kinderschutzbundes (DKSB) und des Prokids-Instituts Herten für Sozialforschung geht hervor: 33 Prozent der befragten Kinder im Alter zwischen sieben und neun Jahren leiden bereits in der Grundschule unter Leistungsdruck. 45 Prozent sagen, dass sie sich mehr Zeit zum Ausruhen und zur Entspannung wünschen. Gymnasiasten geht es nicht besser, die teilweise wie Topmanager 60 Stunden in der Woche arbeiten – für gute Noten. Soziale und persönliche Bedürfnisse bleiben da meist auf der Strecke. Sportvereine berichten, dass immer mehr Schüler keine Zeit für das wöchentliche Training haben, weil sie Zuhause oder im Hort über ihren Hausaufgaben sitzen. Und Trainer registrieren, dass immer mehr Kinder und Jugendliche an Bewegungsmangel und Koordinationsproblemen leiden.

Was also tun? Christian Grayer hat zusammen mit Gundula Liebisch das Tanztheaterprojekt ins Leben gerufen. Dabei trafen sich in München über sieben Monate lang 80 Schüler aus sechs verschiedenen Schulen.  Sie tanzten, rannten, sprangen, schrien und sangen – alles Jugendliche zwischen 11 und 16 Jahren aus überwiegend schwierigen sozialen Verhältnissen. Aus über 21 Nationen. Sie sollten ihre Körper sprechen lassen und so ihren Träumen, Ängsten und Zielen Ausdruck verleihen – ohne ein festgelegtes Drehbuch. Einzige Vorgabe: Die vier Elemente mussten enthalten sein – Feuer, Wasser, Erde und Luft. In denen sollten sich die unterschiedlichen Gefühlswelten der Schüler wiederspiegeln. So stand Feuer für Kraft, Mut und Zorn. Wasser für Angst, Schmerz, Sehnsucht und Liebe. Erde symbolisierte Herkunft und Vertrauen. Luft drückte Freude, Leichtigkeit und Zuversicht aus. Worte, die die Schüler anhand von Fragebögen gesammelt hatten, die das Grundgerüst für das Tanztheaterstück bildeten. Daraus entstand eine zweistündige Aufführung mit Choreographien, Videoeinspielungen, musikalischen Darbietungen und Dialogen, die von den Schülern selbst gestaltet und am Ende in der Münchner „Reithalle“ aufgeführt wurden.

„Die Kinder haben plötzlich gespürt, welche verborgenen Kräfte in ihnen stecken. Dass sie selbst etwas bewegen können. Dass nicht Noten darüber entscheiden, ob sie gut oder schlecht sind“, sagt Wolfgang Miller, Rektor der Ganztagshauptschule an der Perlacher Straße in München, der mit zwei 6. und einer 7. Klasse bei dem Projekt mitgewirkt hatte. Er hat sich zu Christian Grayer an den Tisch gesetzt und meint: „Aber auch unsere beteiligten Lehrer waren überrascht, welche Wirkung das  Projekt auf ihre Schüler und sie selbst hatte.“

Wie Barbara de Oliveira-Schäfer, eine Schülerin der „Salvator Realschule“, die bei dem Tanztheaterprojekt mitwirkte und nun ebenfalls im Pfarrsaal Platz genommen hat. Der Tisch füllt sich. „Am Anfang war das schon komisch“, erzählt sie, „bei den ersten Treffen mit Gundula sollten wir einfach nur durch den Raum laufen und über den Körper verschiedene Gefühle ausdrücken – wie Wut, Traurigkeit und Angst. Damit konnten wir zunächst überhaupt nichts anfangen. Doch der große Unterschied zur Schule war, dass wir hier wirklich als einzelne Person gesehen und ernst genommen wurden. Wir wurden sogar gelobt.“

Und Barbara war kein Einzelfall. „Den Herzschlag und sich selbst spüren, das konnte kaum einer“, sagt Liebisch, die zusammen mit Berenika Kmiec (Choreografin) den Kindern ein ganz neues Körpergefühl vermittelte. „Den Jungen und Mädchen fehlte anfangs die innere Ruhe und das nötige Selbstvertrauen. Erst nach drei, vier gemeinsamen Proben trauten sie sich, ihren Geist und Körper zu öffnen – versteckten sich nicht mehr hinter  Handys, Posen und Aggressionen.“ Eine Faust ballen, sie halten und nach oben strecken, habe anfangs nur für Gelächter gesorgt. „Doch dann hat sich etwas in mir bewegt, mir Freude und Kraft verliehen“, sagt  Barbara de Oliveira-Schäfer. „Ich durfte so sein, wie ich bin, musste mich für nichts und niemanden verstellen. Musste nicht um eine gute Note kämpfen und nichts befürchten. Und das war und ist ein tolles Gefühl.“

Mittlerweile sitzen an dem Tisch im Pfarrsaal zehn Personen, die mit Bildung, Erziehung und menschlichen Bedürfnissen Tag für Tag zutun haben. Neben Christian Grayer (Projektleiter) und Gundula Liebisch (Regie und künstlerische Leitung), Rektor Wolfgang Miller und seiner Mitarbeiterin Henderina Nissel. Petra Riedel-Perizonius, die Schulleiterin der Mittelschule an der Ichostraße in München, hat noch zwei Lehrer, Carolin Blaha und Nikolas Füger, mitgebracht. Der betont: „Bei unseren Schülern kommen Tanz, Musik und Theater sehr gut an. Die sind froh, wenn sie nicht immer nur rumsitzen und Formeln pauken müssen. Eine ganzheitliche Bildung tut den Kindern, aber auch uns Lehrern gut.“

Zu den Lehrern gesellt sich noch eine Erzieherin, Sabine Schneider, die das Kinderzentrum „Sonne, Mond und Sterne“ leitet. Und Zühal Bilir-Meier, die als Kinder- und Jugend-Psychotherapeutin arbeitet. Sowie die Schülerin Barbara de Oliveira-Schäfer. „Kinder sind wie ein Baum. Sie wachsen mal schnell und mal langsam“, meint sie, „und um wirklich Wurzeln zu bilden, brauchen sie Liebe, Verständnis und Zeit. Genau das vermittelt ein Projekt wie dieses – der übliche Mathematik- oder Physikunterricht jedoch nicht.“ Bilir-Meier betont: „Seinen Körper fühlen, seine Gefühle zeigen und sich dadurch spüren können und dürfen, das ist gerade für junge Menschen wichtig.“ Das forme Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl bei jedem Einzelnen.  Und all das zeige auch, wie wichtig eine ganzheitliche Bildung für Kinder sei.

2010 wurde das Tanztheaterprojekt in Regensburg zum ersten Mal mit 50 Schülern umgesetzt. Darauf folgte München. In Dresden soll es Ende 2015 weitergehen. „Es unterscheidet sich von den üblichen Projekten und Workshops an Schulen, da es einen viel längeren Zeitraum umfasst. Und erst so die Kinder mit ihrem Körper bei uns all das sagen dürfen, was im grauen Schulalltag zu kurz kommt“, sagt Christian Grayer. Es gehe mehr auf die persönlichen Bedürfnisse jedes Einzelnen ein und fordere Engagement von den Schülern und der Schule. Er betont: „Bei uns trauen sich die Schüler, ihre Stärken und  Schwächen zu zeigen, drücken diese in Tanz und Worten aus.“ Gundula Liebisch ergänzt: „Das gilt auch für unsere Trainer, Choreografen und natürlich auch mich. Wir haben keine  Masken auf. Wir sind echt, authentisch. Nur so können wir uns den Kindern nähern und umgekehrt. Nur so kommt es zu einem wahren Austausch.“ Es verbinde künstlerische Arbeit mit der Arbeit an der Persönlichkeit, das forme bei den jungen Tänzern ein Gefühl von Vertrauen und Würde. Und genau das sei im Schulunterricht nicht existent: Neben der Bildung von Wissen auch die Bildung der Persönlichkeit zu fördern.

Bildung, die sich nur aus Zahlen und Buchstaben zusammensetzt, die in Büchern und an Schultafeln steht, die sich die Schüler ins Hirn hämmern und pressen müssen, nütze vielleicht der Pisa-Studie, McKinsey und wie die Ratingagenturen alle heißen würden – den Kindern allerdings nicht.  „Ich kenne kein Land, das so stock und steif an 100 Jahre alten Bildungskonzepten festhält wie Deutschland. Und da steht, ganz ehrlich, ziemlich viel Mist drin“, meint Wolfgang Miller. Die Welt bewege und verändere sich fortwährend, damit auch der Mensch, sein Leben und seine Bildung. Deswegen müsse nicht das gesamte Schulsystem auf den Kopf gestellt werden. Ein, zwei Projektstunden wie das Tanztheater-Schulprojekt im wöchentlichen Stundenplan würden jedoch, laut Miller, schon viel bewirken.

Aber das kostet Geld. Und davon haben die Schulen nur äußerst wenig. Auch wenn das Budget für Bildung, Forschung und Wissenschaft in Deutschland gerade bei einem Rekordwert von 235,4 Milliarden Euro liegt, das entspricht 9,4 % des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Allerdings: Im Bildungsfinanzbericht 2013 wurden neben den Bildungsausgaben der öffentlichen Haushalte auch die von Unternehmen, privaten Haushalten, der Bundesagentur für Arbeit und die vom Ausland finanzierten Bildungs- sowie Forschungsausgaben hinzu gerechnet. So ist diese Zahl alles andere als ein Rekord, sondern einfach nur aufgeblasen und liegt immer noch unter dem OECD-Durchschnitt. In Schweden fließen beispielsweise 33 Prozent des Gesamthaushalts in die Schulen und Vorschulen.

„Die Schulen brauchen in Deutschland einfach mehr Relevanz, mehr finanzielle Unterstützung“,  sagt Miller. „Es geht hier um unsere Kinder, unsere Zukunft.“ Da sollte man nicht sparen und Zahlen verdrehen. Im Dezember plagen den Rektor und seine Mittelschule jedes Jahr um die 1000 Euro Miese. Denn solche Projekte, die noch nicht auf dem bayerischen Bildungserziehungsplan stehen, muss er auf eigene Faust finanzieren, werden durch private Sponsoren und Institutionen gezahlt und gestemmt. Und Miller geht noch einen Schritt weiter. Er fordert Fachpersonal, das aus der Kunst-, Musik-, Tanz- und Schauspielszene kommt und mit den Lehrern zusammenarbeiten sollte. „Da dürfen wir auch nicht zu viel von unseren Pädagogen an den Schulen erwarten.“

Dennoch: Ein moderner Lehrer sollte nicht einfach nur Wissen an die Tafel klatschen, sondern auch den Schüler sehen und verstehen. Dafür wäre eine Ausbildung nötig, die mehr soziale und ganzheitliche Aspekte umfasse. „Pädagogen sind Lernbegleiter, die die Lust am Lernen fördern und nicht bremsen sollten“, sagt Sabine Schneider von „Sonne, Mond und Sterne“. Die Anforderungen und der Erfolgsdruck seien für die Schüler und Lehrer in den letzten Jahren immer größer geworden. Ein Tanz-, Musik- und Theaterprojekte wäre für jede Schule und jedes Kind wichtig, würde für eine Verschnaufpause sorgen, den Schülern und Lehrern neue Kraft geben, Farbe in den grauen Schulalltag bringen und Neugierde wecken. Schneider betont: „Die veralteten Lehrpläne sollten nicht länger unsere Kinder belasten und einschränken.“ Also, tanze dein Leben.

Knapp drei Stunden sind bereits vergangen. Die Sonne scheint immer noch durch die großen Fenster im Pfarrsaal. Die Experten, Pädagogen und Barbara von der „Salvator Realschule“ rutschen auf ihren Stühlen bereits unruhig herum. Sie sind froh, als sie aufstehen, Arme und Beine bewegen, ihren Körper spüren. Der „Runde Tisch“ ist vorerst beendet. Gleich kommt die Spielgruppe von St. Matthäus, da springen und toben dann die Kinder im Saal herum…

Sebastian Schulke, München, sebastian.schulke@textbau.com

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